Do, 26.06.25
Staatsvertrag 1955: Das ungenutzte Potenzial
Der österreichische Staatsvertrag ist 70 Jahre alt. Sein – menschenrechtliches – Potenzial ist nicht ansatzweise ausgeschöpft. Und nein, da geht es nicht nur um Minderheitenrechte sondern die Menschenrechte ALLER Menschen in Österreich.
Ich danke der Initiative Minderheiten für die Einladung zur Podiumsdiskussion „Ein Staatsvertrag für alle?“ und insbesondere Stimme Chefredakteurin Gamze Ongan für die Einladung, meine Potenzialanalyse im neuesten STIMME Heft zu skizzieren.
„1948 wurde, insbesondere in Reaktion auf das Ende des Nationalsozialismus, festgestellt: „Alle Menschen sind gleich und frei an Würde und Rechten geboren …“ Damit wurde die zentrale Grundlage für ein Menschenbild geschaffen, dass der Nationalsozialismus komplett in Frage gestellt hatte. Es ist auch der unmittelbarste Anknüpfungspunkt für staatliche Verpflichtungen, präventive Maßnahmen zum Schutz aller Menschenrechte aller zu setzen, um Haltungen, die den Nationalsozialismus möglich gemacht haben, in rechtsstaatliche und demokratische Schranken zu weisen.
Sieben Jahre später wurde im Staatsvertrag zugesagt, „alle erforderlichen Maßnahmen [zu] treffen, um allen unter österreichischer Staatshoheit lebenden Personen […] den Genuss der Menschenrechte und Grundfreiheiten […] zu sichern.“ Artikel 6 des Staatsvertrags von Wien verknüpft also die Verpflichtung, alle Menschenrechte für alle Menschen zu gewährleisten mit der expliziten Verpflichtung, entsprechende Maßnahmen zu setzen.
Der Staatsvertrag wird in der populären Erzählung vor allem mit der Proklamation vom Balkon des Schloss Belvedere „Österreich ist frei!“ von Leopold Figl assoziiert. Die damit verbundenen Verpflichtungen sind von verschwindender Bedeutung, was im Fall des Artikel 6 insofern ein wenig überrascht, als das Potenzial dieser Bestimmung ja allgemein gültig ist und nicht, wie andere Bestimmungen des Staatsvertrags für eine bestimmte Gruppe – kulturelle und sprachliche Minderheiten wie Sloven:innen oder Kroat:innen – oder der Prävention des Widererstarkens nationalsozialistischer Haltungen gewidmet ist.
Die Menschenrechtsklausel des Staatsvertrags verbrieft den Grundanspruch der repräsentativen antifaschistischen österreichischen Demokratie: alle Menschenrechte für alle sowie Maßnahmen zur Stärkung eben dieser Menschenrechte. Ein ziemlicher Jackpot. Eine Potenzialquelle zur Stärkung des Miteinanders und auch des Füreinanders. Ein Felsen, an dem man die derzeit vielgepriesene Konsensfindung hervorragend verankern könnte. Könnte. Könnte.“