Im Rahmen von „Die Kunst des Dialogs: Literatur im Parlament“ habe ich aus Anlass des Internationalen Tags der Menschen mit Behinderungen mit Monika Schmerold, Katharina Steiner und Melanie Wimmer im Theophil Hansen Saal des österreichischen Parlaments über Barrieren der anderen Art gesprochen. Denn das neu renovierte Parlament ist baulich beeindruckend barrierefrei, aber wie sieht es mit dem „Wohlfühlfaktor“ für Menschen mit Behinderungen aus?
Wie – sozial und emotional – sicher ist eine Umgebung bzw. Institution, wie das Parlament? Was braucht man, um sich da akzeptiert und respektiert zu fühlen. Passagen und Zitate aus der Literatur von Menschen mit Behinderungen als Expert:innen in eigener Sache waren Impuls für die Diskussion, die auch aufgezeichnet wurde.
Am 1. Oktober 2022 habe ich die Gedenkrede in Schloss Hartheim gehalten, hier ist der Livestream https://www.youtube.com/watch?v=pV4z8fIM1oU, sowie der Text:
Willkommen: Ihnen, die Sie als Expertinnen in eigner Sache, als Selbstvertreter:innen hier sind, um der Ermordung von Menschen mit Behinderungen zu gedenken.
Ihnen allen, die Sie hier einen Verwandten oder Ihnen lieben Menschen durch schier unermessliche Taten verloren haben: willkommen.
Ihnen allen, die Sie heute gekommen sind, um der Opfer der NS-Euthanasie zu gedenken und das „nie wieder“, dass daraus zwingend resultieren muss, zu bestärken: willkommen.
In all den Unsicherheiten, Erschütterungen, die uns momentan umgeben, ist es schwierig, den Anfang zu finden. Man ist sich nicht mehr sicher, ob es „nur“ die Verwerfungen wachsender Ungleichheiten und der Klimakatastrophe sind oder auch ein stückweit die Rasanz, die illiberalen Strömungen zugeschrieben wird.
Es ist viel, oft zu viel und es scheint zusehends schwieriger, Momente der Reflexion zu finden. Insbesondere das Gemeinsame und das Verbindende scheint momentan wenig Raum zu erhalten.
Vor einigen Wochen haben aufstrebende Musikerinnen und Musiker aus der Ukraine bei einem Konzert in Salzburg ihr Können unter Beweis gestellt. Während da berückend gespielt wurde, gingen mir unweigerlich ein paar Gedanken durch den Kopf: „wissen – die Musiker:innen – wie es ihren nächsten Verwandten und Freund:innen geht? Wann haben sie wohl ihre Familie zuletzt gesehen? Werden sie jemals wieder vor denen spielen? Wann wird es in der Ukraine wieder Konzerte dieser Art geben …?“
Und dann fiel mein Blick auf das Fabrikat des Flügels: genau jene Marke, den meine Großmutter dereinst in Garmisch spielte. Und damit – nebst so vielem anderen, das da mitschwingt – auch die Frage, wie die Unbeschwertheit ihrer Kindheit in den bayerischen Bergen sich so verflüchtigen konnte.
In der Omnipräsenz, die Erinnerungen entwickeln können, ist es das eine, rational zu wissen, wie der Nationalsozialismus aufkam und Menschen dazu brachte, Gräueltaten Sonderzahl zu genehmigen, zu setzen oder durch Unterlassung zu ermöglichen; gleichzeitig bleiben die Folgen des Nationalsozialismus auf der persönlichen Ebene schwer zu fassen.
Meine Großmutter, Annemarie Klein, hat ihr Klavier nach der Flucht verkauft, nachdem sie sehr jung Ernst Böhm geheiratet hat. Sie hat sich mit ihrem Schwiegervater, Adolf Böhm sehr gut verstanden. Gemeinsam mit seinem Sohn führte er eine Zellstofffabrik in der Wilhelminenstraße in Wien. Es war ein modernes Unternehmen, das auf gute Arbeitsbedingungen Wert legte. Adolf Böhm hat sich quasi ‚nebenbei‘ für den – politischen – Zionismus interessiert und auch engagiert. Er hat eines der bis heute in Verwendung befindlichen Standardwerke über den Zionismus verfasst: „Die zionistische Bewegung.“ Darüber hinaus gibt es zahlreiche Artikel und Reden von ihm.
Sein Engagement als Mitglied in der Israelitischen Kultusgemeinde und sein Buch über den Zionismus haben das Interesse von Adolf Eichmann geweckt. Eichmann wollte von Adolf Böhm eine Liste der „prominentesten Juden“ haben und wurde deshalb ab dem 14. März 1938 täglich in der Fabrik vorstellig. Nach mehreren Wochen wurde, so die anekdotische Evidenz, der Druck noch einmal massiv erhöht und die Bibliothek versiegelt. Das war für einen Buchliebhaber wie Adolf Böhm zu viel, mein Urgroßvater hatte einen Nervenzusammenbruch und ist über mehrere psychiatrische Zwischenstationen als Teil der T4 Aktion hier in Hartheim im April 1941 ermordet worden.
In der Akribie, in der Systematik der Ermordung gerade von prominenten Personen, sind dann auch sämtliche Spuren verwischt und Akten vernichtet worden. Darüber hinaus gab es ja auch gezielte Missinformationen, so auch die, wonach mein Urgroßvater eines Todes infolge einer „Lungenentzündung“ in Chelm, Polen verstarb. „Fake news“ der damaligen Zeit, die es auch in die Encyclopedia Judaica geschafft haben.
Die Worte gehen einem aus, im Bemühen, diese Gräueltaten und insbesondere die Mischung aus Erbarmungslosigkeit und Akribie zu erfassen und auszudrücken.
Umso wichtiger die Antworten, die die damals noch junge Staatengemeinschaft nach dem Ende des Nationalsozialismus in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gefunden hat:
„Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren …“
Die Lebensrealität von Menschen mit Behinderungen scheitert global – und auch in Österreich – täglich an diesem Anspruch, Chancengleichheit und die Durchsetzung sämtlicher Menschenrechte zu gewährleisten. Sicherzustellen, dass Menschen mit Behinderungen respektiert und geachtet werden, in ihrer Selbstbestimmung gestärkt und anerkannt werden und ein gleichberechtigtes Leben führen können, ist viel zu oft noch eine schemenhafte Skizze der Zukunft statt faktischer Realität.
Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, die 2006 fertig verhandelt wurde, stellt den Anspruch, allen Menschen mit Behinderungen alle Rechte und die damit verbundene Würde im Alltag zu gewährleisten. Anzuerkennen, dass Menschen mit Behinderungen selbst bestimmen können und ein Recht haben, diese ihre Selbstbestimmung zu leben.
Die Unterstützung, die Menschen mit Behinderungen manchmal in der Formung ihrer Selbstbestimmung brauchen, ist übrigens nicht so fundamental anders als Assistenz, die die sogenannt ‚chronisch Normalen‘[1]täglich in Anspruch nehmen. Es ist der Detailgrad der Informationen und Methoden, aber nicht der Akt der Selbstermächtigung, der zwischen einem Meinungsbildungsprozess in einem x-beliebigen Vorstandsbüro, dem Kabinett eines Landeshauptmanns oder eben in einer unterstützten Entscheidungsfindung vor sich geht. Aber nach wie vor ist es völlig akzeptabel, die Entscheidungsfindung von Menschen mit Behinderungen umfassend zu entwerten, ohne dass dem darin codierte Abelismus oder Paternalismus Einhalt geboten wird.
So kommt es auch, dass wir beim Thema Bildung gerade massive Rückschritte machen: Segregation von Menschen mit Behinderungen ist Gang und Gebe, die wohlbedachten Verweise auf die Wichtigkeit von Inklusion sind nichts mehr als Phrasen. Das ist zu aller erst eine Menschenrechtsverletzung vis-a-vis Menschen mit Behinderungen, die ein Recht auf gleichberechtigte Teilhabe an einer Schule ihrer Präferenz und Wahl haben. Es ist aber auch ein Symptom eines Schulsystems, das in wachsendem Maße niemandem mehr gerecht wird, den Lernenden genauso wie den Lehrenden.
Die Katastrophe, die sich hier abzeichnet, ist unter anderem vom Rechnungshof eindringlich dargestellt worden: die Regelungen in diesem Bereich sind so veraltet und impraktikabel, dass an mehr als der Hälfte österreichischer Bundesschulen Schulversuche und Pilotprojekte dauerhaft etabliert sind, um dem verkrusteten Regelwerk auszuweichen. Die stetig wachsende Zahl an funktionellen Analphabet:innen quer durch alle Gesellschaftsschichten sollte alle schon seit Jahrzehnten – völlig frei von irgendwelchen ethnischen Zuschreibungen – zum Handeln veranlassen.
Nicht weniger erschreckend und skandalös die Tatsache, dass im Jahr 2022 Menschen mit Behinderungen wieder und im wachsenden Maße auf Spenden angewiesen sind. Ein Leben in Selbstbestimmung ist nach wie vor den wenigsten Menschen mit Behinderungen möglich, zu stark sind die Mechanismen des Ausschlusses, zu tief sitzt das Bedürfnis, mit Almosen „Leid zu lindern“ statt mit Rechten und faktischem Empowerment tatsächlich Gleichberechtigung möglich zu machen, so wie es die Verpflichtungen für Bund und Länder in der Konvention vorsehen. Die Pandemie und die Inflation setzen Menschen in prekären Arbeitsbedingungen zu, aber eben auch jenen, die von Sozialleistungen, die knappest bemessen sind, dramatisch zu.
Ein drittes und letztes Beispiel: bauliche Barrierefreiheit, wo die „Verwahrlosung des Anspruchs“[2] auf gleichberechtigte Teilhabe, auf eine tatsächlich repräsentative Demokratie gemessen an den gesetzlichen und menschenrechtlichen Zusagen momentan rasant fortschreitet. Viel zu oft wird bauliche Barrierefreiheit dann doch nicht umgesetzt bzw. viel zu oft glauben Menschen, dass sie wissen, was da erforderlich ist und wundern sich dann über die Stiegen die nicht bedacht wurden oder die Türrahmen, die viel zu eng sind. Fakt ist, Räume in denen alle gut Platz haben sind in verschiedenen Regelungen versprochen worden. Und: sobald Räume baulich barrierefrei sind, fühlen sich alle wesentlich wohler und willkommener.
Was den Beispielen aus Bildung, dem Versagen in der Gewährleistung von sozialer Sicherheit und baulicher Barrierefreiheit gemeinsam ist? Der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen passiert ungebrochen vor allem auf der strukturellen Ebene.
Strukturell bedeutet: Es kann schwerlich einzelnen Personen zugeschrieben werden, dass Ausschluss und Menschenrechtsverletzungen passieren. Es ist die Art, wie Entscheidungen entstehen, die Prozesse, in denen Genehmigungen erteilt werden, die Vorgaben, die als Grundlage für Planung dienen, die verhindern, dass alle Menschen Sicherheit, Gleichberechtigung und Wohlergehen erleben.
In diesem Gefüge der Nicht-Zuständigkeiten werden jene, die davor schon teilweise ausgeschlossen waren, vehementer an den Rand gedrängt. Denn Vorurteile, Stigma und andere Aspekte von Exklusion verstärken sich in dieser Gemengelage ständig. Und wir wissen alle, welche gesellschaftspolitischen Tendenzen und politischen Gestaltungsvorstellungen hierdurch besonders viel Auftrieb gewinnen.
Gerade deshalb tut ein Gedenken in Hartheim Not und auch besonders weh: der Ausschluss von Menschen mit Behinderungen ist ein Gradmesser für die Grundverfasstheit des Gleichheitsanspruchs einer Demokratie.
In die Exklusion von Menschen mit Behinderungen fließt tendenziell mehr Stigma und Vorurteil, als in den Ausschluss anderer Personengruppen, auch weil die Abgrenzung von „normal“ und „nicht normal“ besonders hart gezogen wird. Und umso dringlicher und eindringlicher ein „nie wieder!“ hier in Hartheim, heute und jeden Tag.
Den anti-faschistischen Grundkonsens umzusetzen bedeutet insbesondere die Beachtung und Implementierung aller Menschenrechte für alle. „Alle Menschen sind gleich an Rechten und Würde geboren“ bedeutet auch einen selbst-kritischen Umgang mit struktureller Gewalt, sei es im Bildungsbereich, in der Prävention von unmenschlicher und erniedrigender Behandlung oder auch dem Umgang mit jenen, die für ihre Meinung aktiv bedroht werden, wie dies in den letzten Jahren reihenweise passiert und zuletzt für Dr.in Lisa-Maria Kellermayr fatal endete.
Wir müssen mehr tun, um Menschenrechte Wirklichkeit zu machen, insbesondere dort, wo sich Zuständigkeiten scheinbar verlaufen und rechtlich niemand Verantwortung zu tragen scheint. Denn genau in diesem vermeintlichen Zwischenraum zwischen rechtlicher und moralischer Verantwortung entsteht das Momentum für eine wachsende Zahl von Menschenrechtsverletzungen – auch durch Unterlassung – und damit der Auftrieb für anti-demokratische Strömungen.
Umso wichtiger das Gedenken hier im Schloss Hartheim. Und die täglichen Bemühungen des Teams des Lern- und Gedenkorts um Vermittlung von Fakten, das Aufzeigen von Entwicklungen, die Einordnung von Mechanismen, die diskriminieren und ausschließen und anderen Aspekten, die das Entstehen und den Nationalsozialismus selbst möglich gemacht haben.
Im Mittelpunkt der Vermittlungsarbeit stehen junge Menschen, denen das schier Unbegreifliche nahegebracht wird, die zu Mechanismen des Ausschlusses genauso sensibilisiert werden, wie zu den Konsequenzen von unhinterfragten Normen: rechtlichen genauso wie biologischen. Ein weiterer Schwerpunkt der Tätigkeit des Lern- und Gedenkorts ist die Inklusion von Menschen mit Behinderungen. Die Auseinandersetzung mit dem menschenverachtenden Umgang von Beeinträchtigung erfordert eine hohe Sensibilität und viel Einfühlungsvermögen. Es bedarf auch anderer Vermittlungsmethoden, um tatsächlich ein barrierefreies Angebot sicherzustellen. Ein Beispiel dafür ist die neue Dauerausstellung, die mit viel Bedacht und Herzblut gestaltet wurde und nun zurecht akklamiert wird und viele Besucherinnen und Besucher an diesen schwierigen Ort bringt.
Die stetige Forschung rund um das Euthanasieprogramm des Nationalsozialismus, hier und an anderen Orten, ergänzt die Arbeit des Lern- und Gedenkorts. Ich danke dem Vorstand und dem Team für ihre enormes Engagement, ihr stetes Bemühen um eine faktische, inklusive und barrierefreie Vermittlung des Unvorstellbaren und der täglichen Erneuerung des „nie wieder!“ wie auch der Bekräftigung der Menschenrechte hier in Schloss Hartheim.
Einer wachsenden Tradition der Gedenkfeier entsprechend, lade ich Sie nun zu einer Minute der Stille und des Gedenkens ein und darf Sie abschließend bitten: nutzen Sie Ihr Menschenrecht auf Meinungsfreiheit, sprechen Sie über die Wichtigkeit, alle Menschenrechte für alle durchzusetzen.
[1] Dr. Patricia Deegan, Conspiracy of Hope, “Chronically Normal Persons.”